PERSÖNLICH

Interview mit Ständerat Erich Ettlin

Freude am Gestalten und Debattieren

Als wir Erich Ettlin im Januar in Luzern zum Gespräch treffen, laufen bei der Mitte Partei die Drähte heiss. Wer wird die Nachfolge von Bundesrätin Viola Amherd antreten? Eine Kandidatur des sympathischen Politikers aus Obwalden erscheint unwahrscheinlich. Der Betriebsökonom mit einem Diplom als Wirtschaftsprüfer und Steuerexperte sitzt in Bundesbern fest im Sattel und hat als Ständerat längst seinen Traumjob gefunden.

 

Interview: Dieter Pfaff und Bettina Kriegel I Fotos: Patric Spahni

Erich Ettlin, was hat Sie ursprünglich dazu motiviert, in die Politik zu gehen, und was inspiriert Sie in Ihrer Arbeit als Ständerat besonders?

Ich bin 2015 als politischer Quereinsteiger in den Ständerat gekommen, davor war ich auf lokaler Ebene aktiv. Meine Grundüberzeugung ist, dass jeder Einzelne etwas für den Staat tun kann. Ich kann es nicht ausstehen, wenn Leute über «die da oben» jammern. Jeder kann etwas bewegen. Ich finde das Amt im Ständerat grossartig: Es herrschen gute Umgangsformen und es gilt eine ungeschriebene Debattenkultur, an die sich alle halten. Parteipolitik spielt in der kleinen Kammer eine untergeordnete Rolle, und man hat die Freiheit, seinen eigenen Standpunkt zu vertreten.

Trotzdem ist man in alle Geschäfte involviert und Teil eines Teams mit 46 Personen, mit dem man viel bewirken und gestalten kann. Am Ende entstehen Gesetzesartikel, an denen ich mitgewirkt habe - das ist ein sehr erfüllendes Gefühl. Zudem geniesst das Amt viel Anerkennung, da man nicht so scharf polarisieren muss. Polarisierung liegt mir nicht (lacht).

Sie verfügen über jahrzehntelange Erfahrung im Finanz- und Steuerwesen, waren in der Beratung wie auch in der Verwaltung tätig. Wie schaffen Sie es, Ihre berufliche Erfahrung effektiv in die politischen Diskussionen einzubringen?

Ich bin unter anderem in der Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK). Als Steuerberater kann ich Themen wie beispielsweise das Steuerrecht oder auch das neue Aktienrecht zurückspiegeln und aufzeigen, was das für die Praxis bedeutet. Das ist der grosse Vorteil unseres Milizsystems und den Debatten, die geführt werden, vor allem in den Kommissionen, wo man tiefer in die Thematik geht, und die Verwaltung vorne sitzt und sagt, was geht oder nicht.

Die Schweiz steht im internationalen Steuerwettbewerb. Wie bewerten Sie die aktuellen Bestrebungen zur globalen Mindestbesteuerung und deren Auswirkungen auf die Schweiz?

Ich gehe Anfang Februar mit einer Delegation des Parlaments zur OECD. Beim Treffen werden wir die kritische Frage stellen: Machen wirklich alle mit? Sind wir nicht am Ende die braven Schüler, die dadurch Nachteile erleiden werden, wenn wir uns an die Bedingungen halten? Aus europäischer Sicht wird uns gesagt, dass Länder wie Deutschland, Frankreich und Spanien usw. - unsere Hauptmärkte - bereits mitmachen und es wichtig ist, dass auch wir uns beteiligen. China, Brasilien und USA werden nicht mitmachen. Deshalb ist das Abkommen höchst gefährdet, aber wir machen mit, weil unsere Nachbarn es auch tun.

Das Powerplay der G20-Staaten ist ein Machtspiel, bei dem kleine Staaten wie die Schweiz, Holland oder Irland unter die Räder geraten. Wir können es uns aber nicht leisten, aussen vor zu bleiben - das würde uns nur schaden. Letztendlich handelt es sich um einen knallharten internationalen Steuerwettbewerb.

Früher waren die Interessen derart unterschiedlich, dass man sich nie einigen konnte. Mit BEPS (Base Erosion and Profit Shifting), ein Projekt das darauf abzielt, Steuervermeidung durch multinationale Unternehmen zu bekämpfen, hat sich das in den letzten Jahren geändert und eine neue Dynamik bekommen. Woran liegt das?

Die Länder haben erkannt, dass sie die gleichen Interessen haben. Früher gab es keine Einigung, weil es allen gut ging. Doch mit der steigenden Verschuldung und dem Druck, die Steuern im eigenen Land zu erhöhen, wollen die Länder keine Wettbewerber an der Grenze, die ihnen schaden könnten. Der internationale Steuerwettbewerb war teilweise sehr aggressiv, wie bei den «double Irish with a Dutch sandwich», wo Unternehmen wie Apple über Konstrukte nur minimal Steuern zahlten. Da sind europäische Länder eingeschritten. Die Panama-Papers haben ebenfalls gezeigt, dass viele Strukturen nicht korrekt waren. Es ist verständlich, dass Staaten diese Schlupflöcher schliessen wollten. Das Pendel schlägt nun zurück und wir müssen darauf achten, dass wir nicht übertrieben reagieren. Die Schweiz hat nun mal mit ihrem guten Haushalt und ihren korrekten Steuersystemen in gewissen Kantonen 13 Prozent - das können wir begründen und mehr benötigen wir auch nicht.

Diese Diskussion könnte man auch auf die 26 Kantone in der Schweiz übertragen. Wäre es denkbar, dass die grösseren Kantone sich zusammenschliessen und den Steuerwettbewerb regulieren?

Ja, das ist durchaus denkbar. Es ist schwierig zu erklären, dass jemand im Kanton Jura dreimal mehr Steuern zahlt als im Kanton Zug. Um interkantonale Verschiebungen zu vermeiden, wurde der Finanzausgleich eingeführt. Ich finde, das ist das richtige Instrument für einen fairen Ausgleich von reichen zu ärmeren Kantonen. Die Wirkung dieses Instruments zeigt sich beispielsweise in Obwalden, das früher als Steuerhölle galt. Wir haben im Jahr 2006 eine Steuerstrategie entwickelt, die die Sätze bei juristischen Personen halbiert hat und in den Steuerwettbewerb investiert, was uns viele neue Unternehmen gebracht hat. Obwalden hat sich von einem Empfänger- zu einem Zahlerkanton gewandelt. Doch plötzlich fehlten bis zu 60 Millionen, was zu Budgetproblemen führte und die Frage aufwarf, ob es nicht besser wäre, wieder Empfänger zu sein. Der Finanzausgleich wirkt und ich finde es vom Selbstwertgefühl her besser, ein Zahler zu sein.

Die Altersvorsorge ist ein anderes Dauerthema. Die Börsenentwicklung letztes Jahr hat den Pensionskassen geholfen und einige konnten ihren Umwandlungssatz erhöhen. Welche Reformen - auch bei der AHV - erachten Sie als notwendig?

In der ersten Säule ist die Finanzierung der 13. AHV-Rente, die uns jährlich vier bis fünf Milliarden kosten wird, noch nicht beschlossen. Dann steht die Initiative der Mitte Partei mit Aufhebung der Plafonierung der AHV-Renten für Ehepaare im Raum. Dahinter steckt der demografische Stress, der auf uns zukommt mit Fragen zur Solidarität und zur Finanzierung.

Bei der zweiten Säule ist die grosse Herausforderung, ob das System erhalten werden kann. Die Idee, die zweite Säule in die erste zu integrieren - eine sogenannte «Volkspension», eine grosse AHV - gibt es und wird von einigen befürwortet. Das 3-Säulen-System hat aber seine Vorteile, weil die Anreize zum Sparen in der 2. Säule sehr gross sind. Die Herausforderungen liegen dort bei Teilzeitbeschäftigungen und tiefen Löhnen, insbesondere auch bei Frauen, die gar nicht versichert sind. Nur mit der AHV den Lebensabend in der Schweiz zu bestreiten, ist sehr schwierig. Das BVG so umzubauen oder anzupassen, dass es finanzierbar bleibt, ist eine Herausforderung. Nun wird im Rahmen des Sparpakets gefordert, dass Kapitalauszahlungen der 2. und 3. Säule künftig höher besteuert werden. Ich finde es heikel, mitten im Spiel die Regeln zu ändern, besonders für diejenigen, die jahrelang Einzahlungen getätigt haben. Und natürlich: Im BVG können wir praktisch nur das Obligatorische anpassen, dort ist der Umwandlungssatz immer noch bei 6,8 Prozent.

Zum Thema Arbeitsmarkt und duale Bildung. Angesichts des Drucks durch internationale Bachelor- und Masterabschlüsse: Was ist notwendig, damit die Schweiz im Bereich der dualen Bildung konkurrenzfähig bleibt, und wie beurteilen Sie die aktuelle Entwicklung?

Ich bin ein grosser Fan der dualen Bildung, habe selber eine Lehre absolviert und ging danach an die Fachhochschule. Das duale Bildungssystem muss unbedingt weiter gestärkt und gefördert werden. Es fehlt an handwerklichen Berufsleuten, Pflegefachkräften usw. Diese konnten wir mit der Migration, die jetzt zunehmend unter Druck gerät, einigermassen auffangen.

Ich gehe jedes Jahr an die Lehrabschlussfeier der gewerblichen Berufe in Obwalden. Diese 19 bis 20-jährigen Berufsleute stehen voll im Leben, bringen alles mit und könnten beispielweise eine Schreinerei eröffnen. Im Gespräch mit den Eltern stelle ich aber fest, dass die Lehre nicht die Anerkennung erfährt, die sie verdient. Dabei sollten die Eltern dankbar sein, dass sie eine Sorge weniger haben und ihre Kinder mit einer soliden Ausbildung beste Aussichten auf dem Arbeitsmarkt haben. Wenn jemand einen Uniabschluss vorweisen kann, heisst das nicht automatisch, dass diese Person auch einen entsprechenden Job findet. Hier muss unbedingt ein Umdenken stattfinden.

Die Digitalisierung verändert viele Branchen, auch den Finanzsektor. Welche Chancen und Risiken sehen Sie hier für die Schweizer Wirtschaft, insbesondere auch im Bereich Accounting?

Wir müssen nicht in die Zukunft blicken, sondern können aus der Vergangenheit lernen. Als ich 1988 als Wirtschaftsprüfer begann, war das Sekretariat doppelt so gross wie das Prüfungsteam. Heute gibt es kein Sekretariat mehr für Routinearbeiten, da die Prüfungen elektronisch im System erfasst werden. Der nächste Schritt wird sein, dass auch die Prüfungsarbeit zunehmend automatisiert wird. Was bleiben wird - und das sage ich auch unserem Nachwuchs -, ist der persönliche Kontakt. Mit 62 Jahren bin ich teilzeitpensioniert und habe meine Partnerposition bei BDO abgegeben. Ich habe ein wunderbares Leben und treffe mich weiterhin mit Kunden zum Essen. Wenn alles nur noch digital abläuft, werden wir austauschbar. Es ist viel schwieriger, jemandem in die Augen zu schauen und ihm mitzuteilen, dass man den Auftrag entzieht.

In Zeiten von zunehmender Polarisierung: Wie fördern Sie die Zusammenarbeit zwischen den Parteien im Ständerat?

Ich benötigte 50 Prozent der Wählerstimmen, um im Kanton Obwalden in den Ständerat gewählt zu werden. Politikerinnen und Politiker, die mehr als 50 Prozent der Wähler hinter sich scharen können, sind eher differenziert, ausgeglichen und mehrheitsfähig. Daher ist es im Ständerat nicht so schwierig zu politisieren, wir haben dort keine typischen Pol-Partei-Leute wie im Nationalrat. Vieles, was im Parlament nach aussen hin geschieht, ist oft Show; wer laut schreit, zieht die Kameras an.

Was ist Ihre Vision für die Schweiz in den nächsten 10 bis 15 Jahren?

Weiter so (lacht)! Es ist entscheidend, dass wir dafür sorgen, dass unsere Institutionen auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene stark bleiben und das Vertrauen in sie nicht schwindet. Dafür benötigen wir auch die entsprechenden Mittel. In Staaten mit schwachen Institutionen grassiert die Korruption, und wenn diese einmal etabliert ist, ist es schwierig, sie wieder loszuwerden. In der Schweiz funktioniert alles verlässlich; das ist unsere grosse Stärke, die uns auch von Unternehmen und Privatpersonen attestiert wird, die sich hier niederlassen.

Das gilt auch für das Bildungswesen: Wir haben hochinnovative Institutionen wie die ETH und EPFL sowie gute Universitäten und einen hervorragenden dualen Berufsbildungsweg. Jetzt spreche ich als Obwaldner: Wir haben wirklich gute Hidden Champions mit starken Unternehmen. Innovation kommt zuvorderst von unten. Wenn man mit Mechanikern spricht, hört man oft kreative Lösungsansätze für Probleme. Erst gestern hatte ich einen Vortrag bei der mechanischen Werkstätte Sigrist AG in Sachseln; und was die alles erfunden haben, ist unglaublich und exemplarisch für die Schweiz mit ihrer vielfältigen KMU-Landschaft. Diese Innovationsfähigkeit müssen wir unbedingt bewahren und fördern.

Wenn Sie das Rad der Zeit zurückdrehen könnten und auf der grünen Wiese nochmals starten könnten, was würden Sie anders machen?

Meine Lebenseinstellung lautet: «Es ist gut, wie es ist.» Eigentlich lebe ich in der besten aller Welten. Jetzt muss ich nur noch gesund bleiben. Das ist ein Privileg, und ich bin sehr dankbar dafür. Was mich zunehmend ärgert, ist die spürbare Unzufriedenheit. Man jammert über Dinge, wo man sich fragen muss, ob da jemand eine Ahnung hat.

Meine Eltern wuchsen beide in bitterarmen Verhältnissen auf, ohne Chance auf mehr als sechs Jahre Schule. Eine Generation später lebe ich wie ein Fürst im Mittelalter. Ich hatte zwar gute Noten in der Schule, konnte aber nicht ans Gymnasium, weil bei sieben Kindern schlicht die Mittel dazu (und für ein späteres Studium) fehlten. Deshalb habe ich eine KV-Lehre gemacht und die Höhere Wirtschafsschule selber finanziert. Hätte ich Eltern gehabt, die mich gepusht hätten, hätte ich wahrscheinlich Geschichte studiert und wäre vielleicht ein unglücklicher Geschichtslehrer geworden. Ich würde mich darüber beschweren, dass jemand mit einer Lehre und als Wirtschaftsprüfer mehr verdient als ich ... (lacht) Zum Glück kennen wir die Alternative nicht! Ich habe wunderbare Menschen auf meinem Weg kennengelernt, die ich nicht missen möchte.

Welchen historischen Moment der Schweizer Geschichte hätten Sie gerne miterlebt und warum?

(Überlegt) Ich hätte gerne die Zeit um 1848 erlebt, als Menschen die Bundesverfassung erarbeiteten. Die Gestaltung des Staatswesens ist ein total unterschätztes Ereignis in unserer Geschichte. Es wäre spannend gewesen, mit diesen Pionieren, die das Fundament damals gelegt haben, zu reden und ihre Visionen und Herausforderungen zu hören.

Was motiviert Sie, bei SwissAccounting regelmässig - übrigens auch an der diesjährigen GV vom 19. Juni in Bern - zu Steuerfragen zu referieren?

Ich mache es einfach gern! SwissAccounting ist ein vorbildlicher Verband - ohne Schnickschnack, sondern geerdet und fokussiert auf Themen aus meinem Berufsfeld. Die Verlässlichkeit und die gegenseitige Wertschätzung sind für mich sehr wichtig und machen Freude!

Vielen Dank für das Gespräch!